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Eine antike Telosformel der Dichtung in christlicher Deutung
Das Fortleben von Horazens Epistula ad Pisones, das leider erst unzureichend erforscht ist, birgt eine Fülle von Merkwürdigkeiten, welche die Aufmerksamkeit des Literaturhistorikers zu Recht beanspruchen dürfen, in sich. Wie zuletzt M. Fuhrmann in seiner Einführung in die antike Dichtungstheorie1 feststellte, geht die grundlegende Umdeutung des Werkes als eine Ars Poetica, d.h. als ein Kompendium von Vorschriften zur Abfassung von Gedichten, schon auf eine verhältnismässig frühe Zeit, nämlich auf das späte erste nachchristliche Jahrhundert zurück. Das Verlangen nach festen Normen der Dichtungstheorie scheint die Ursache dafür zu sein, dass Leser dieser Zeit den bereits bei Quintilian an zwei Stellen2 belegten Namen Ars Poetica für das Gedicht in Umlauf gebracht haben. Die spätere Entwicklung führt uns nun das Schauspiel einer Zerstückelung des ganzen Gedichtes, einer Auflösung in einzelne, meist stereotyp wiederholte Verse vor, die schlagworthaft immer wieder zitiert und zur Rechtfertigung der divergierendsten Inhalte beansprucht werden: Hatte schon — um nur einige Beispiele vorzuführen —
1 Darmstadt 1973) p. 100. 2 lnst. orat. praef. 2: -Usus deinde Horati consilio, qui in arte poetica suadet, ne praecipitetur editio 'nonumque prematur in annum' eqs. (v. 388). /bid. 8, 3, 60: «Id enim tale monstrum, quale Horatius in prima parte libri de arte poetica fingit»: Humano capiti cervicem pictor equinam iungere si velit eqs. (Hor. A. P. 1 s.).
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