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Zur Deutung von Horazens Pindarode 4,2
Die Oden des Horaz haben im Laufe der Jahrhunderte so viele Interpreten gefunden, dass eine wesentliche Erweiterung des Wissens über diesen Gegenstand kaum noch für möglich gehalten wird. Um so erstaunter ist der kritische Leser des Horaz und seiner Deutungen, wenn er immer wieder auf Gesichtspunkte stösst, die in der Forschungsliteratur zu dem römischen Dichter offenbar übersehen worden sind. Wird dieses Erstaunen freilich selbst zur Frage gestellt, so enthüllt es sich als Konsequenz eines Widerspruches der Aufgabenstellung von Philologie, die kein Geringerer als Friedrich Nietzsche wohl am klarsten formuliert hat. Zwar hat Philologie, wenn man sie als Wissenschaft vom Altertum begreift, keinen dauernden Bestand. Ihr Gegenstand ist erschöpfbar. Stellt man ihr dagegen die Aufgabe, die eigene Zeit aus der Antike zu verstehen, so ist diese Aufgabe eine ewige 1. So findet der merkwürdige Umstand seine natürliche Erklärung, dass Texte, die einerseits zu den bekanntesten Hinterlassenschaften der Antike zählen, andererseits unbekannte Züge aufweisen und für ein recht zugreifendes Fragen offen geblieben sind. Eine der bekanntesten Dichtungen des Horaz ist das
1 F. Nietzsche, 'Nachgelassene Fragmente« Notizen zu «Wir Philologen» 3, 62', in Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari IV l (Berlin 1967) 107: «Die Philologie als Wissenschaft um das Alterthum hat natürlich keine ewige Dauer, ihr Stoff ist zu erschöpfen. Nicht zu erschöpfen ist die immer neue Accomodation jeder Zeit an das Alterthum, das sich daran Messen. Stellt man dem Philologen die Aufgabe, seine Zeit vermittelst des Alterthums besser zu verstehen, so ist seine Aufgabe eine ewige, etc.-.
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